2 Tage Brüssel: Jenseits des BIP (Teil: 1)

Der Abendflug nach Brüssel ist voll besetzt (150 Leute). Es gibt praktisch keinen Zug, der so fährt, dass man rechtzeitig zu einer Vormittagssitzung nach Brüssel kommt und gleichzeitig den Sonntag noch mit seinen Lieben verbringen kann (in Zeiten der Bahnstreiks wär es noch schwiriger gewesen). Alles geht gut: 5 Stunden von Tür zu Tür. Da ich in meinem Leben schon um die 30 x in Brüssel war, finde ich mich gut zurecht. Im Flieger vor, neben und hinter mir vor allem Leute, die in Brüssel arbeiten oder zu mehr oder weniger wichtigen Terminen reisen. Die Dame neben mir liest Unterlagen zum Thema Kosovo. Hier findet die Back-office-Arbeit zu all dem statt, was man dann in den Medien findet, wenn sich Politiker treffen. (Hannibal überquerte die Alpen, hatte er nicht wenigstens einen Koch dabei?)

Ich selber reise zur aus meiner Sicht wichtigsten Konferenz des Jahres: Beyond GDP: measuring progress, real wealth and the well-being of nations (Jenseits des Bruttoinlandsproduks – Messung des Fortschritts, wirklichen Wohlstands und des Wolbefindens der Nationen). Organisiert von EU-Kommission, Europaparlament, WWF und Club of Rome. GDP ist die engl. Abkürzung für das deutsche „Bruttoinlandsprodukt“ (also das, was man früher unter Bruttosozialprodukt verstanden hat: „jetzt wird wieder in die Hände gespuckt…“ – die Summe aller Produkte und Dienstleistungen einer Gesellschaft - bewertet in Geld).

Das Thema beschäftigt mich seit ich vor über 30 Jahren die „Grenzen des Wachstums“ gelesen habe. In den 80ern haben wir unseren Professoren (keine Professorinnen damals) an der Uni Linz ein erstes „Interdisziplinäres Seminar“ zum Thema „Wachstum“ abgerungen, in dem nicht nur das Thema umfassend behandelt wurde sondern auch „echte“ Scheine und Noten zu erwerben waren. In den letzten Jahren ist das Thema weniger populär. Jetzt hat es plötzlich wieder Konjunktur. Umweltkommissar Dimas ist es zu verdanken, das Thema auf den europäischen Tisch gebracht zu haben: zu zeigen, dass sich das gute Leben in reichen Ländern längst vom Bruttoinlandsprodukt entkoppelt hat. Die Wirtschaft wächst, die Lebensqualität, das Wohlbefinden oder Glück der Menschen steigt aber längst nicht mehr im gleichen Ausmass – wenn überhaupt. Aus einer wichtigen Initiative ist in den letzten Monaten ein wirklich großer Event geworden: 750 TeilnehmerInnen aus 50 Ländern von allen Kontinenten. Die Konferenz wird von Jose Manuel Barroso eröffnet und mehrere Kommissare werden sprechen, ausserdem hochrangige Exponenten der wichtigsten NGOs, internationaler Organisationen, Regierungsvertreter etc. pp.

SERI hatte die Gelegenheit über einen Rahmenvertrag, den SERI mit der EU-Kommission hat, ein wenig bei der (inhaltlichen) Vorbereitung zu helfen. Siehe www.seri.at/measuringprogress. Stefan und Martin haben eine „virtuelle Ausstellung“ organisiert, die unterschiedliche BIP-Alternativen im Internet darstellt. Ich selber habe an einem Hintergrundpapier mit gearbeitet, das die wichtigsten Alternativen zusammen stellt. So kommen auch die für uns wichtigsten Indikatoren (Sozialkapital, direkte Messung von Lebensqualität, Wohlergehen und Glück) in dem Paper vor.

EU-Parl-Cafeterie

Die Veranstaltung findet im nigelnagelneuen (=immer noch in Bau befindlichen, obwohl schon seit ein paar Jahren genutzen) Gebäude des Europaparlaments statt. In einem von 3 Arbeitskreisen des Expertenworkshops VOR der Konferenz sitzen immer noch über 50 Leute. Daher komme ich mit meiner „Message“ nicht durch: die richtigen Indikatoren müssen von Zielen abgeleitet werden und das oberste Ziel sollte das Wohlbefinden der Menschen sein. So sagt es auch die europäische Nachhaltigkeitsstrategie von 2006. Dafür müssen dann die Statistiker dann Indikatoren nicht entwickeln und nicht umgekehrt, wie es meist diskutiert wird. Ich schreibe dazu gerade ein Paper mit Paul Weaver, einem langjährigen Kollegen, der jetzt in Paris lebt und von dort aus für die Universität in Durham (UK) arbeitet. Download: hier.
Unter den 750 TeilnehmerInnen sind sehr viele bekannte Gesichter. Sehen und gesehen werden ist also auch hier nicht unwichtig, zeigt aber vor allem das große Interesse, das das Thema heute hat und sich wesentlich von dem unterscheidet, wie solche Themen noch vor wenigen Jahren behandelt wurden. Es geht also immer auch darum, wie können wir (wer mit wem) mit diesem gesteigerten Interesse weiter arbeiten. Das österreichische Lebensministerium interessiert sich beispielsweise derzeit sehr dafür, hier aktiv zu werden (oder besser: zu bleiben, wo sie ja schon bei der Erarbeitung der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie ihre Handschrift im Sinne des oben gesagten hinterlassen haben: Wohlergehen (well-being) als umfassendes Ziel der Nachhaltigkeit.

Barroso

Der Hauptredner nach Barroso und andern Politikern ist Bruno S. Frey, Ökonomieprofessor aus Zürich - immer wieder auch als künftiger Nobelpreisträger apostrophiert. Ein glücklicher Mensch als Advokat der Glücksforschung und der Glücksmessung. „Happiness“ sollte nicht das Ziel der Politik sein, sondern die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Menschen Glücklich werden. Vorher haben Barroso und (vielleicht noch wichtiger) der Kommissar für Wirtschaft und Finanzen Almunia klar gesagt: Das BIP ist kein geeignetes Mass für das Wohlergehen der Menschen: wir brauchen eine Alternative. Dies ist – für mich – sicher ein Quentensprung. Gut wie immer: Hans Rosling mit seinen animierten Excel-Graphiken.

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